Mar 20, 2008

Über die psychologische Notwendigkeit der taiwanischen vollen Unabhängigkeit

Weil es mir sehr am Herzen liegt und am Samstag schon auf Taiwan der neue Präsident gewählt und über ein UN-Beitritts-Referendum abgestimmt wird, hier eine Antwort-Email an einen Freund, der überlegt, dort zu studieren.

Es geht um die Frag, ob Taiwan unabhängig sein sollte oder nicht, und warum.

Dies ist mein Herzblut, ich hoffe, damit einige Herzen erweichen zu können... :)

Natürlich, die Mehrheit der Taiwaner denkt wahrscheinlich wie du, denkt Sicherheit:
Warum den status quo aufs Spiel setzen, wo sich damit doch so fein Geld verdienen lässt? Anders formuliert: Aus Angst, Desinteresse oder der Hoffnung darauf, dass sich schon nichts ändern wird, gehen sie nicht bis zum äußersten, sondern nur den halben Weg - nicht warm und nicht kalt, nicht Fisch und nicht Fleisch, wie wir sagen würden. Was als Wahren der "Mitte" im Chinesischen aber durchaus veritable Option ist.

Ich sehe das Problem vor allem als eines psychologischer Art. Hast du schon einmal überlegt, welche Legitimationslücken einer Demokratie erwachsen, die rein wirtschaftlichen Interessen hintangestellt wird?
Einer Demokratie zumal, die aus sich selbst heraus originiert und dennoch weltweit kein eindeutiges Bekenntnis, keine eindeutige Anerkennung von den anderen demokratischen Teilnehmern unserer internationalen Sorgenrunde findet - dass vielmehr Kontakte mit ihr verheimlicht werden/ halblegal geführt werden, so als schäme man sich dafür...
Und wenn dies alles auch noch zugunsten einer autoritären Herrschaft, nur aufgrund wirtschaftlicher Erwägungen geschieht?!

- Diese Demokratie wird ihrer Dringlichkeit, ihrer Heiligkeit beraubt - von innen wie von außen. Von außen ausgehöhlt. Sie wird für bare Münze genommen und in der Reihe von Prioritäten immer wieder und immer weiter nach hinten delegiert (zuerst kommt der Wohlstand "für alle" - natürlich nicht gleichmäßig, weswegen das eben immer mehr Zeit in Anspruch nimmt - das ist ja eine Endlosspirale, weil IMMER irgendjemand reicher ist; Wohlstand und Geldverdienen), bis... - ja, bis sie irgendwann irgendwohin verschwunden ist, und keiner hat etwas gemerkt oder auch nur etwas dagegen...

Von außen wird den Taiwanern vorgemacht, dass ihre Demokratie zwar schön und gut, gegen Chinas wirtschaftliches Potential aber nur zweitrangig ist. Kein idealistischer Fürsprecher wagt es sich mit China zu verscherzen, ins Hintertreffen zu geraten, indem er gegen solche moralische Doppelzüngigkeit aufsteht. In Taiwan wird die Frage nach Unabhängigkeit verdrängt und aufgeschoben - was die Möglichkeit einschließt, sich wieder zu vereinigen - wenn China "sich demokratisieren würde". Wozu es ganz sicher in den nächsten 50 Jahren kommen wird - zu einer zwanghaften Einverleibung Taiwans jedoch vielleicht schon, wenn lauter Duckmäuser in der UN sich von den Einflüsterungen ihrer von der Dollarsucht gezeichneten und sich in jede Spur von Geld verkrallenden WIrtschaftskanaillen leiten lassen.
Ich sage das vor dem bezeichnenden Hintergrund der gegenwärtigen Unruhen in Tibet, während welcher - ohne auf Details einzugehen, weil wir die nicht objektiv erfahren - die Grenzen der Toleranz Chinas, wie auch der Blauäugigkeit jener Apologeten, die ein solches autoritäres System schon als Alternative zur westlichen Demokratie sehen, für den Blindesten offensichtlich werden. Ich möchte nie und unter keinen Umständen einer solchen Diktatur ausgeliefert sein, die mein Leben bis zu dem Punkt kontrolliert, wo sie entscheidet, welche Internetseite ich besuchen darf.

Weißt du, was diese Situation für Taiwan verheißt?
- Eine Abwertung seiner Demokratie, und daraus folgend Perspektivlosigkeit, Politikverdrossenheit, Dekadenz. Machtgebaren, Ringen um EInfluss und ökonomische Ziele kommen vor sozialen und gesellschaftlichem Zusammenhalt, da finanzielle Werte (individualistisch, kalt) über demokratische (gemeinschaftlich, heiß) erhoben werden.
Und das müsste dir als Philosophiestudenten zu denken geben...
Erste Tendenzen sind erkennbar...


Von außen sind die Taiwaner gegenwärtig mehr oder weniger zur Akzeptanz ihrer Lage gezwungen - "was bleibt ihnen anderes übrig?" - und damit ihrer freien Selbstbestimmung beraubt! Für mich ist das ein nicht hinnehmbarer Zustand!
Und aus welchen Gründen geschieht dies?!

Zum Argument "chinesischer Kulturraum": Eine distinkte taiwanische Kultur und Identität ist definitiv vorhanden, da Taiwan insgesamt etwa 250 Jahre chinesisch war, 50 japanisch, vor dem 17. Jahrhundert nur sich selbst überlassen, und seit knapp 60 Jahren selbständig ist. Es war NIE Teil der VR China und ist infolge dessen verschont geblieben von "Großem SPrung nach vorn", Mao'scher Massenmobilisierung, Kulturrevolution und den damit einhergehenden Verletzungen an Volk und Kultur.
Auf Taiwan hat sich im Verlauf dieser 60 Jahre seit 1949 und insbesondere seit den 1990er Jahren eine ganz eigenständige, vom Festland definitiv verschiedene Kultur herausgebildet, zu deren Konsens u.a. ein gewachsenes Demokratieverständnis gehört. Der Anspruch der VR auf die Insel mutet daher lächerlich an. Ein Verlust taiwanischer Selbständigkeit wäre ein weiterer herber Schlag gegen die Hoffnung der liberalen Demokratien auf eine freie Welt im 21. Jahrhundert - zu dem sie dann selbst aus Profitgier auch noch beigetragen hätten.

Darum muss die Demokratie Taiwans geschützt werden, und das beste Mittel hierfür ist nunmal die international anerkannte und rechtsgültige Unabhängigkeit. Denn sie verheißt Stabilität, verschafft Sicherheit im Gegensatz zum labilen status quo, unter dem sich das demokratische Bewusstsein Taiwans aus Angst und der Unsicherheit ob des Bestehens der eigenen Existenz nicht völlig frei entfalten kann.

Taiwan geht es sprichwörtlich wie dem kleinen gallischen Dorf, das von Römern umstellt war. Ein Zaubertrank ist nicht zur Hand, dennoch müssen die Taiwaner ihrer Angst begegnen und sich auflehnen, wollen sie weiter bestehen und in einer Demokratie leben. Scheinbar ist keiner da, der den Dörflern in ihrer Ausweglosigkeit beistehen könnte, doch - zuerst muss man beweisen, dass man überhaupt zu kämpfen gewillt ist. Die Mitsteiter wagen sich dann aus Wäldern hervor, in denen man sie nicht vermutet hätte und aus Richtungen, die auf die man nicht gehofft hatte.

Liebe Grüße in die Welt, die ich liebe

Jacob

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